
Von Homer zum Grundgesetz: Über Ehre und Würde des Menschen
Q1 Griechisch GK liest "Ilias"
Als der Griechisch-Grundkurs der Q1 Homers Ilias las, stießen die Schülerinnen und Schüler gleich zu Beginn auf ein zentrales Wort: „ἠτίμασεν“. Was bedeutet es – „entehren“, „beleidigen“, „verachten“? Die Diskussion darüber führte mitten in eine Frage, die bis heute relevant bleibt: den Unterschied zwischen Ehre und Würde.

Im ersten Halbjahr lesen die 26 Schülerinnen und Schüler des Griechisch-Grundkurs der Q1 aus dem ältesten vollständig erhaltenen Buch Europas: Homers Ilias, einem Epos aus fast 16.000 Versen.
Gleich am Anfang der Ilias fällt ein Begriff, der für das Handeln der Personen in der Ilias oft entscheidend ist: Der Gott Apollo schickt den Griechen im Kampf eine todbringende Seuche, weil Agamemnon, der Heerführer der Griechen, einen Priester des Apollo „ἠτίμασεν“ (êtímasen). Wir haben uns gefragt, was die treffendste Wiedergabe des Wortes im Deutschen ist: Hat Agamemnon den Priester „verachtet“, „entehrt“, „beleidigt“, „gekränkt“ oder „für unwürdig gehalten“? Wo liegt der Unterschied zwischen den Optionen, die das Wörterbuch hergibt? Kann man dieses eine griechische Wort überhaupt angemessen mit nur einem deutschen Wort oder Ausdruck wiedergeben?
Hier hat sich Jule Brinkmann Gedanken über die Begriffe der Ehre und der Würde gemacht und gezeigt, wie weit in unsere heutige Zeit Ideen strahlen, die das antike Griechenland vor über 2.500 Jahren hervorgebracht hat, aber auch, was unsere Schülerschaft an Denkarbeit leisten kann:
Ehre und Würde
Ehre und Würde – zwei Begriffe, die ähnlich klingen, aber in Wahrheit sehr unterschiedlich sind. Die Ehre ist etwas, das uns von anderen zugesprochen wird. Sie hängt von dem Blick der Gesellschaft ab, von Respekt, Ansehen und Anerkennung. Man kann sie gewinnen, wenn man nach den Normen und Werten einer Gesellschaft handelt – und man kann sie verlieren, wenn man diese Regeln verletzt. Ehre ist wandelbar, abhängig von Kultur und Zeitgeist, ein Spiegel dessen, was andere über uns denken.
Die Würde hingegen hat einen ganz anderen Charakter. Sie gehört jedem Menschen von Geburt an, unabhängig von Leistung, Herkunft oder Meinung. Sie kann nicht verliehen oder aberkannt werden. Sie ist unverlierbar – auch wenn sie durch Gewalt, Unterdrückung oder Demütigung missachtet und verletzt wird.
Gerade die Vergangenheit hat uns gelehrt, wie wichtig es ist, diesen Unterschied zu verstehen. Die Schrecken der NS-Zeit haben gezeigt, wie grausam es ist, wenn Menschen ihre Würde abgesprochen wird. Millionen wurden entrechtet, erniedrigt und ermordet – nur weil sie nicht ein menschenverachtendes Weltbild passten. Sie wurden auf ihre „Ehre“ reduziert, auf ein Bild, das die Täter ihnen zuschrieben, und dabei ihrer Würde beraubt. Doch in Wahrheit konnte ihnen diese Würde niemals genommen werden – sie wurde verletzt, ja, mit Füßen getreten, doch sie wohnte ihnen stets unverlierbar inne.
Genau aus diesen Erfahrungen heraus heißt es im ersten Artikel unseres Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieser Satz ist nicht zufällig an den Anfang gestellt. Er ist eine Konsequenz aus der Vergangenheit, eine Antwort auf das Leid, das durch die Missachtung der Menschenwürde entstanden ist. Er soll uns daran erinnern, dass Würde nicht verhandelbar ist - nicht von Mehrheiten, nicht von Regierungen, nicht von gesellschaftlichen Normen.
Ehre kann kommen und gehen. Würde bleibt. Ehre hängt von außen ab. Würde lebt in uns. Und gerade weil die Vergangenheit gezeigt hat, wie gefährlich es ist, wenn Menschen nur nach Ehre oder nach gesellschaftlichem Ansehen bewertet werden, schützt unsere Verfassung die Würde als das, was sie ist: das unantastbare Fundament des Menschseins.
Haupttext: Jule Brinkmann, Q1;
Einleitung und Photos: Dr. Thomas Backhuys
— [Daniel Heisig-Pitzen]